Am 22. September wird der Bundestag neu gewählt. Was als größtes Event des demokratischen Betriebes fetischisiert wird, ist in Wahrheit nur ein müder Abklatsch dessen, was Demokratie tatsächlich bedeutet. Das in Deutschland dominierende Verständnis von Demokratie, welches sich auf die Abgabe der Stimme und der Zuschauerrolle bei Polit-Talkshows beschränkt, finden wir im höchsten Maße problematisch. Aus diesem Grund haben wir uns erlaubt rote Kasper- und Clownsnasen auf die Gesichter der Wahlplakate aller Parteien zu kleben. Mit dieser direkten, gewaltfreien Aktion möchten wir auf kreative Art auf unsere Kritik hinweisen.
Was bedeutet Demokratie?
Bei dem Versuch einer Definition wird sich mit kaum einen Begriff so schwer getan wie mit „Demokratie“. Alle finden Demokratie irgendwie gut und richtig, aber bei der Frage was darunter konkret zu verstehen sei, gehen die Meinungen stark auseinander. Zerlegt man das Wort in seine Bestandteile stellt sich Demokratie als „Herrschaft des Volkes“ (griechisch: demos = Volk, kratia = Herrschaft) dar. Für uns gehören zum „Volk“ alle Menschen, die dauerhaft in der Gesellschaft leben, unabhängig von Geschlecht, Religion, Geburtsort, Einkommen, Hautfarbe oder politischer Überzeugung. Alle Menschen müssen nicht nur in der Theorie über die gleiche Möglichkeit zur Mitsprache verfügen. Menschen betrachten wir in erster Linie als Individuen und nicht Vertreter eines Konstruktes wie „Nation“ oder „Rasse“. Wir sind alle einzigartig. „Herrschaft“ ist ein eher negativ besetzter Begriff. Die Herrschaft von Menschen über Menschen wird durch eine ungleiche Verteilung von Macht ermöglicht und ist prinzipiell abzulehnen, da sie immer zur Willkür führt. Wie oben bereits beschrieben, sollte die Macht zwischen allen Menschen gleichmäßig verteilt sein, sodass Herrschaft allenfalls über Sachfragen und Dinge – und eben nicht über Menschen – ausgeübt wird. Demokratie bedeutet folglich salopp formuliert: Alle Menschen finden mit ihren individuellen Wünschen in einer Debatte zusammen und treffen eine Entscheidung, die möglichst konsensual ist. Nicht die Mehrheit diktiert der Minderheit ihren Willen (oder umgekehrt), sondern es wird diejenige Entscheidung getroffen, die die größtmögliche Anzahl von Menschen gut findet oder zumindest mit ihr leben kann. Diese Vorstellung ist mit dem gegenwärtigen Parlamentarismus leider nicht vereinbar.
Demokratie ist mehr als Parlamentarismus!
In Deutschland hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Demokratie im Kern bedeute, dass man alle vier Jahre demjenigen Menschen seines Wahlkreises die Stimme gibt, der am besten glaubhaft machen kann, besser als die anderen Kandidat_Innen zu sein. Ganz nüchtern betrachtet ist das aber ziemlich dürftig. So wichtig und zukunftsweisend die Idee des Parlamentarismus in der Geschichte ist (immerhin wurde den Menschen früher noch nicht einmal eine Stimmabgabe zugestanden), so ist sie ebenfalls schon sehr alt. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Unser Demokratieverständnis braucht ein Update. Das ist kein hehres Ziel oder utopische Träumerei, sondern eine Notwendigkeit. Die Abstimmung – ein Kernbestandteil aller demokratischen Prozesse – sollte nicht bedeuten, seine Stimme an jemand anderes abzugeben, sondern sich mit anderen Menschen zusammen abzustimmen. Ein Stellvertretungssystem, wie es derzeit im Parlamentarismus praktiziert wird, ist dafür nicht geeignet. Es ist Zeit, dass wir uns selbst die Fähigkeit zugestehen, demokratisch zu denken und zu handeln. Fragen des öffentlichen Lebens sollten von den – und nur von den – Menschen entschieden werden, die von dieser Entscheidung betroffen werden. Dies geht einher mit der Dezentralisierung und Verflachung von Wissens- und Machthierarchien. Das hat nichts mit Kleinstaaterei oder Ineffizienz zu tun. Kern der demokratischen Idee ist es in erster Linie gute und nicht schnelle Entscheidungen hervorzubringen.
Mehr Demokratie durch “Volks”entscheide?
Manchmal steht die Forderung im Raum durch “Volks”entscheide mehr Demokratie zu ermöglichen. Diesen Gedanken finden wir zu kurz gegriffen. Die Praxis von “Volks”- und Bürger_Innenentscheiden hat gezeigt, dass diese keine demokratischen Prozesse in unserem Sinne sind. Statt der offenen Debatte über ein strittiges Thema wird ein komplexer Zusammenhang von einigen wenigen auf eine Ja-Nein-Frage reduziert, über die dann im Mehrheitsprinzip entschieden wird. Durch die Formulierung der Frage werden bestimmte Optionen von Anfang an ausgeschlossen und nicht selten die Interessen der Bevölkerung gegeneinander ausgespielt. Die Vorstellung, dass es jemand anders brauchen würde um über die Belange des eigenen Lebens zu entscheiden wird hier nicht überwunden. Der Kern unserer Forderung ist: Die künstliche Trennung zwischen „Laien“ und „Expert_Innen“ der Politik muss aufgegeben werden. Niemand kann ein Individuum stellvertreten, niemand kennt die Gefühle und Bedürfnisse eines Menschens genau, niemand darf sich anmaßen, über andere herrschen zu können. Nur wir selbst sind dazu in der Lage unsere Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen eines Miteinanders zu kennen, zu formulieren und einzufordern. Niemand kennt dein Leben so gut, wie du selbst!
Keine Stammtischparolen!
Wir grenzen uns mit aller Deutlichkeit von flachen und demokratiefeindlichen Stammtischgeschwätz ab. Die Behauptungen, dass „die Politiker_Innen“ alle korrupt seien, hinter geschlossenen Türen ihre Diäten erhöhen würden oder sich parteiübergreifend gegen „das Volk“ verschwören, sind Quatsch. Das Parlament ist keine „Quasselbude“, in der zu viel gesprochen und zu wenig entschieden wird. Das Gegenteil ist der Fall: Im Bundestag wird zu viel entschieden, ohne dass ausreichend diskutiert wird! Auch die ständig breitgetretene Floskel der „Politikverdrossenheit“ ist nicht korrekt. Die Verdrossenheit richtet sich nicht gegen „die Politiker_Innen“ oder die Politik an sich, sondern speist sich allenfalls aus dem Gefühl der Ohnmacht, dass „die da oben“ ja ohnehin nur das tun würden was ihnen beliebe. Wenn man denn nur die Wahl hat von einer Koaliton der Sozialdemokratischen oder der Christdemokratischen Partei regiert zu werden, ist dieses Ohnmachtsgefühl verständlich. Abhilfe schafft die Erkenntnis, dass man auf derartige Strukturen gar nicht angewiesen ist und dass man auch selbst das Miteinander demokratisch gestalten kann, ohne dass es zum Chaos kommt.
Häufig unterschätzt: Form bestimmt Inhalt
Die Bundestagswahl als „höchsten demokratischen Akt“ zu bezeichnen ist absurd. Wenn man seine Stimme einer Person gibt, die sich in einer Partei behaupten muss und diese Partei sich wiederum in einer Koalition behaupten muss, ist es offensichtlich, dass die persönlichen Interessen die einen dazu veranlasst haben den/die Kandidat_Innen dieser Partei zu wählen, wenig oder keine Berücksichtigung finden können. Es geht gar nicht mehr um Inhalte, sondern um Stimmmaximierung. Das ist keine böse Absicht, sondern liegt in der Struktur des Parteienwettbewerbs begründet. Keine Partei – und schreibt sie sich Demokratie und Transparenz noch so groß auf die Fahne – ist in der Lage diesen strukturellen Zwängen zu entgehen. Die zentralisierten staatlichen Strukturen, die Demokratie eigentlich ermöglichen sollen, degradieren die Demokratie zu einem müden Abklatsch ihrer selbst. Es geht nur noch um Anträge, Mehrheiten, Fraktionszwang und Machterhalt. Inhalte und Debatten bleiben auf der Strecke. Solange nicht die grundlegenden Pfeiler des Zusammenlebens diskutiert werden – wie beispielsweise die Wirtschaftsform – wird sich nichts ändern, egal welche Parteien denn nun momentan über eine Mehrheit verfügen.
Politik findet nicht im luftleeren Raum statt. Die parlamentarische Politik ist einem engen Korsett aus Geschäftsordnungen, Rechtsvorschriften und verbindlichen Institutionen unterworfen. Egal wie stark sich die Parteien bemühen sich voneinander abzugrenzen, so sind es nur minimale Unterschiede in dem, was sie am Ende als Ergebnis ihrer Politik präsentieren können. Alle Parteien, die mit dem Selbstanspruch in die Politik getreten sind, „alles mal anders“ oder „endlich alles richtig und vernünftig“ machen zu wollen, haben die Macht der Strukturen unterschätzt. Sie alle sind im Politalltag versandet und haben sich von ihren ursprünglichen Zielen entfernt. Die Grünen haben dies mustergültig vorgemacht (von der Anti-Kriegspartei zu Unterstützern jedes Bundeswehreinsatzes, um nur ein Beispiel zu nennen) und die Piraten sind auf dem besten Weg dahin, alle Fehler zu wiederholen. Egal ob Links, Rechts, Mitte, Oben oder Unten: Solange wir glauben, dass andere Menschen unsere Anliegen regeln könnten, unterliegen wir nicht nur einem fundamentalen Irrglauben, sondern entmündigen uns auch noch selbst. Der symbolische Akt der Stimmabgabe kann durchaus wörtlich genommen werden: Wir geben aus eigenem Antrieb unsere Stimme weg. Daher ist es prinzipiell egal an wen wir unsere Stimme abgeben.
Zeit zum Kaspern!
Das moderne Wahlplakat spricht Bände über den parlamentarischen Politikbetrieb: Lächelnde Gesichter, wenig Inhalte, viel Scheinalternativen. Die Austauschbarkeit der Kandidat_Innen ist Realsatire. Sie wirken wie Kasper oder Clowns und tragen mit dazu bei, dass die gesamte Wahl an ein Kaspertheater erinnert. Deswegen bekommen sie alle von uns eine Kaspernase verpasst! Der vielzitierte Ausspruch Churchills, dass „Demokratie – abgesehen von all den anderen Formen, die Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind – die schlechteste aller Regierungsformen“ sei, ist Unfug. Die Mängel des demokratischen Betriebes müssen nicht hingenommen, sondern angesprochen und möglichst behoben werden. Nur so können unverzichtbare Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität aktiv gelebt werden. Demokratie ist das, was wir daraus machen. Packen wir’s an!
Das Kasper-Clown-Kommando